Charlotte (links) und Marie, die beiden Gründerinnen der Werner Siemens-Stiftung, verbrachten die grösste Zeit ihres Lebens in enger Gemeinschaft.

Grosses Glück, tiefes Leid

Im Jahr 2022 ist der prächtige Band «Charlotte Siemens und Marie Siemens» erschienen. Somit sind nun die Biografien aller fünf Frauen, die die Werner Siemens-Stiftung gegründet beziehungsweise alimentiert haben, in Buchhandlungen und Bibliotheken erhältlich.

Bis vor wenigen Jahren wusste man nur wenig von den Stiftungsgründerinnen Charlotte und Marie und den Zustifterinnen Anna und Hertha sowie Nora. Das wenige, das bekannt war, hing mit ihren berühmten Vätern (im Fall von Nora mit dem Schwiegervater) zusammen, Werner und Carl Siemens. Nun kann man die fünf Frauen als eigenständige Persönlichkeiten in dem von Umbrüchen gekennzeichneten Übergang ins 20. Jahrhundert kennenlernen – dank der Biografien, die die Historikerin Béatrice Busjan und die Archivarin Yvonne Gross verfasst haben. In den Büchern erfährt man, wie den Siemens-Töchtern der familiäre Zusammenhalt von den Eltern vorgelebt wurde, wie sie von klein auf regelmässig miteinander zu tun hatten und wie sie einander als Ehefrauen vor und nach dem Ersten Weltkrieg beistanden. Anschaulich geschrieben und mit tollem Bildmaterial versehen, bieten die Bücher einen tiefen Einblick, wie es dazu kam, dass die Töchter von Carl von Siemens am 7. März 1923 die Werner Siemens-Stiftung gründeten und später die Töchter von Werner von Siemens sowie die Schwiegertochter von Carl von Siemens die Stiftung alimentierten.

Als dritter und letzter Band ist die Doppelbiografie der Stiftungsgründerinnen Charlotte und Marie erschienen.

Charlotte von Buxhoeveden, geborene Siemens




Charlotte kommt 1858 als zweites Kind des Carl Siemens und seiner Frau Marie (geborene Kap-herr) zur Welt. Sie und ihre Geschwister verbringen die frühe Kindheit in St. Petersburg, in einem schlichten Wohnhaus, direkt neben den Siemens-Werken. Ihr Vater leitet seit 1853 die russische Niederlassung der Firma Siemens & Halske, die sein Bruder Werner 1847 in Berlin gegründet hat.

Charlotte ist ein fröhliches, aufgeschlossenes und willensstarkes Mädchen. Die unbeschwerte Kindheit im lebhaften St. Petersburg währt jedoch nicht lange. Ihr jüngerer Bruder stirbt im Alter von einem Jahr, was die Lebensfreude ihrer an sich lebhaften und lustigen Mutter Marie knickt. Die Mutter erleidet mehrere Aborte sowie eine Totgeburt und ist immer wieder bettlägerig. Als Charlotte neun ist, zieht die Familie in den georgischen Kurort Borjomi und wenig später nach Berlin. Doch die Ärzte vermögen die inzwischen an Tuberkulose erkrankte Mutter nicht zu heilen. Sie stirbt im Februar 1869, und einen Monat später auch Charlottes jüngste Schwester.

In London bei Onkel und Tante

Charlotte, damals zehn, kommt mit den Geschwistern Werner Hermann und Marie in die Obhut wechselnder Gouvernanten. Schliesslich zieht Carl Siemens mit ihnen nach London, wo sein Bruder Wilhelm und dessen kinderlose Frau Anne leben und sich liebevoll der Kinder annehmen. Sie verbringen elf angenehme, abwechslungsreiche Jahre in London. 1881 zieht es Carl erneut nach St. Petersburg. Er lässt sich mit seinen drei Kindern in einem grosszügigen Haus in der Nähe des Winterpalasts von Zar Alexander II. nieder. An Bällen, Tänzen und Réunions führt er sich und seine mittlerweile erwachsenen Kinder wieder in die Gesellschaft ein. Doch das lustige Leben endet mit dem Attentat auf den Zaren.

Charlotte heiratet 1884 den baltischen Adligen Axel Baron von Buxhoeveden. Sie verbringen die Winter in St. Petersburg, die Sommer auf der estnischen Insel Ösel, auf den Gütern seiner Familie. Axel macht politisch Karriere. Charlotte fehlt das politische Verständnis für die Aufgaben ihres Mannes, doch fühlt sie sich auf seinem Hauptgut wohl. Ihre finanziellen Mittel erlauben ihnen einen repräsentativen Lebensstil – auch nachdem Charlottes Lieblingsschloss in Heimar bei revolutionären Unruhen 1905 niedergebrannt worden ist. Seit ihrer Jugend reagiert Charlotte auf schwierige Ereignisse mit körperlichen Beschwerden, als Erwachsene leidet sie zunehmend unter Angstzuständen und Nervenzusammenbrüchen. Sie hält sich deswegen immer wieder im Schweizer Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen auf – auch als ihre Tochter Lolotte 1911 an Scharlach stirbt.

Enteignet und staatenlos

Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs verlässt Charlotte St. Petersburg und begibt sich zur ärztlichen Behandlung nach Stockholm. Als die kommunistischen Umwälzungen eine Rückkehr nach Russland unmöglich machen, reist sie 1918 in die Schweiz. Dort erfährt sie, erneut als Patientin im Bellevue, dass ihr Mann Axel im Bürgerkrieg auf Ösel getötet worden ist.

Verwitwet und staatenlos gelingt der inzwischen 63-Jährigen mit der Unterstützung ihrer Kinder und der Verwandten in Berlin ein Neuanfang. Ihr Besitz in Russland und Estland ist zwar verloren, doch nach dem Tod ihres Vaters erbt sie wie ihre Schwester Marie beträchtliche Anteile an den deutschen und englischen Siemens-Werken. Mit einem Teil dieses Vermögens gründen die Schwestern 1923 in der Schweiz die Werner-Stiftung (Vorläuferin der Werner Siemens-Stiftung), deren Zweck die Fürsorge für notleidende Nachfahren der Siemens-Gründer Werner und Carl ist.

Charlotte lässt sich, wie zahlreiche andere russische Emigrierte, in Baden-Baden nieder und erwirbt 1924 die liechtensteinische Staatsbürgerschaft. Der neue Pass gibt ihr die Reisefreiheit zurück, die sie gewohnt ist. Gegen den Rat ihrer Ärzte beginnt sie, durch Westeuropa zu reisen. Sie stirbt am 26. März 1926 in Zürich im Hotel «Elite» und wird in Baden-Baden beigesetzt.

«Wenn Charlotte ihren Enkeln von Estland und Russland erzählte, erschien das ihren Zuhörern wie Märchen aus längst vergangenen Zeiten», schreibt die Buchautorin und Historikerin Béatrice Busjan. «Tatsächlich bewegt sich Charlotte von Buxhoeveden zeitlebens in einer Welt, die mit ihrer Generation untergegangen ist.»

Marie von Graevenitz, geborene Siemens




Marie kommt 1860 als viertes Kind von Carl Siemens und seiner Frau Marie in St. Petersburg zur Welt. Sie ist ein zurückhaltendes, schüchternes Mädchen, das sich gern im Schatten ihrer älteren und extrovertierteren Schwester Charlotte bewegt. Die beiden Schwestern werden die meiste Zeit ihres Lebens in enger Gemeinschaft verbringen. Gemeinsam erleben sie den frühen Tod ihrer Mutter und ihres Bruders sowie die Umzüge der Familie nach London – zu Carls Bruder Wilhelm und dessen kinderloser Frau Anne – und zurück nach St. Petersburg.

Hier heiratet Marie im Jahr 1884 Georg Baron von Graevenitz. Ihr Mann gehört in St. Petersburg zum diplomatischen Dienst des Zarenreichs und wird 1890 zum Kammerjunker befördert. Die Eheleute bekommen sechs Kinder. Als Georg an die russische Botschaft in London versetzt wird, zieht die ganze Familie für fünf Jahre dorthin. In den folgenden Jahren vertritt Marie regelmässig bei diplomatischen Empfängen ihren Mann, der an Alkoholismus leidet.

Geheilte Depression

Wie ihre ältere Schwester Charlotte durchlebt auch Marie immer wieder depressive Phasen. Als sich diese verstärken, begibt sie sich im Jahr 1903 zur Behandlung in das renommierte Schweizer Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen. Anders als Charlotte gelingt es ihr nach dieser Behandlung, wieder ein eigenständiges Leben zu führen.

1904 übernimmt Maries Mann die Leitung der russischen Gesandtschaft in Weimar, und die Familie zieht für vier Jahre dorthin. Als die Gesandtschaft geschlossen wird, kehren sie nach St. Petersburg zurück und pflegen von dort aus die Kontakte zu ausländischen Gesandtschaften. Die Familie pendelt zwischen ihrem Stadtsitz im St. Petersburger Diplomatenviertel und den Landgütern Gostilitzy und Chmelewo, die Marie von ihrem Vater Carl von Siemens geerbt hat. Ihre drei Söhne werden an der Militärakademie auf den Dienst am Zarenhof vorbereitet.

Eine Stütze für Charlotte

Marie übernimmt regelmässig auch die Fürsorge für die Kinder ihrer Schwester Charlotte, wenn diese krankheitsbedingt ausfällt. So ist es Marie, die 1911 am Sterbebett der an Scharlach erkrankten Lolotte sitzt und sich ab 1915 um ihren Neffen Charles kümmert, als Charlotte zur ärztlichen Behandlung nach Stockholm reisen muss.

Im Frühling 1917 erlebt Marie in St. Petersburg hautnah die Russische Revolution und die Abdankung des Zaren. Sie flieht nach Helsinki, ihr Mann und ihre Söhne folgen etwas später. Auf diesen Schicksalsschlag folgen rasch weitere: Im folgenden Jahr stirbt ihre älteste Tochter an Tuberkulose, und später auch zwei ihrer Söhne.

Georg von Graevenitz fühlt sich bis zu seinem Lebensende dem Zarenhof verbunden. Als die Bolschewiki ihnen die russische Staatsangehörigkeit aberkennen, bleiben Marie und Georg bewusst staatenlos. Die Besitzansprüche an ihre russischen Güter Gostilitzy und Chmelewo hält Marie jedoch zeitlebens aufrecht.

Erbe als finanzielle Basis

Maries Vermögen als Erbin ihres geadelten und im Jahr 1906 gestorbenen Vaters Carl von Siemens bildet die finanzielle Basis der Familie. Auch die finanzielle Zukunft der Siemens-Nachkommen sichert sie 1923 gemeinsam mit ihrer Schwester Charlotte durch die Gründung der Werner-Stiftung.

Ohnehin widmet Marie der Fürsorge für Familienangehörige viele Jahre ihres Lebens. In Zeiten des Leids trägt sie ihr tiefes Gottvertrauen. Nach Charlottes Tod gründet Marie im Jahr 1927 – trotz des Widerspruchs ihrer Kinder – auch noch die Maria-Stiftung, in welche sie Aktien im Wert von 2,1 Millionen Reichsmark einbringt, zur Unterstützung von Nachkommen, ehemaligen Bediensteten und nahestehenden Personen. Am 2. Oktober 1939 stirbt Marie, wenige Wochen nach dem Tod ihres Mannes.