Zwei Projekte auf Basis der Nobelpreis-Forschung

Grundlage der zweiten Quantenrevolution

Der diesjährige Nobelpreis für Physik wurde Alain Aspect, John Clauser und Anton Zeilinger für ihre Verdienste bei der experimentellen Erforschung verschränkter Quantenzustände verliehen. Damit haben sie ganz wesentlich die Grundlagen der sogenannten zweiten Quantenrevolution mitgestaltet, auf denen auch das Forschungsprojekt CarboQuant aufbaut.

Gedanken von Oliver Gröning und Roman Fasel, Projektleiter des WSS-Projekts CarboQuant, zum Physik-Nobelpreis 2022

Quantenmechanik ist «seltsam», und das gilt schon für ihre Entstehung. Üblicherweise entwickelt sich eine physikalische Theorie durch die detaillierte Beobachtung eines Phänomens, gefolgt von dem Verständnis der involvierten Prozesse. Zum Schluss erfolgt die Übersetzung dieses Verständnisses in eine mathematische Formelsprache. Bei der Quantenmechanik war alles etwas anders. An ihrem Anfang standen Beobachtungen, die mit der klassischen Physik nicht vereinbar waren. Diese waren so seltsam, dass es nicht möglich war, ein konzeptionelles Verständnis zu entwickeln. Stattdessen wurde in einer Art «Versuch-und-Irrtum»-Verfahren nach einer Formelsprache gesucht, welche die experimentellen Beobachtungen beschreiben und vorhersagen kann. Dieser «Verzweiflungsakt» war unglaublich erfolgreich, er hat über Jahre und Jahrzehnte eine Theorie geschaffen, welche die präziseste der Physik überhaupt ist. Um dies in einem Bild zu veranschaulichen: Die Quantenmechanik kann heute Messresultate mit einer Genauigkeit vorhersagen, welche im übertragenen Sinne der theoretischen Vorhersage der Distanz zwischen Berlin und New York mit der Präzision einer Haaresbreite entspricht. 

Doch die Quantenmechanik fordert auch ihren Preis. Das intuitive Verständnis der Natur, welches die klassischen Theorien lieferten, gilt nicht mehr. Wir können die Welt im allerkleinsten nur noch durch Formeln und Mathematik verstehen. Auch die Gewissheit in den Vorhersagen ist verschwunden. Die Quantenmechanik sagt nur voraus, mit welcher Wahrscheinlichkeit gewisse Ereignisse eintreffen, aber nicht welches.  

Damit nicht genug: Aus den mathematischen Formeln der Quantenmechanik lassen sich scheinbar absurde Phänomene ableiten. Das hatte schon Einstein erkannt, als er in einem Gedankenexperiment zwei quantenverschränkte Teilchen über Distanzen von Lichtjahren trennte. Die Quantenmechanik würde in diesem Fall vorhersagen, dass, wenn der zunächst undefinierte Zustand eines Teilchens plötzlich festgelegt würde, das andere Teilchen ohne Zeitverzögerung den komplementären Zustand einnehmen würde. Dass es also eine unverzügliche «Absprache» der beiden Teilchen mit Überlichtgeschwindigkeit gäbe – eine Vorstellung, welche für Einstein bis zu seinem Tod inakzeptabel war.

Der Verdienst der diesjährigen Nobelpreisträger Alain Aspect, John Clauser und Anton Zeilinger ist es, dass sie die Eigenartigkeit, welche sich aus den Formeln der Quantenmechanik ergibt, mit grösster Virtuosität in Experimenten verifizieren und somit zeigen konnten, dass diese tatsächlich real ist. Damit haben sie nicht nur einen enormen Beitrag zu den Grundlagen der Quantenmechanik geliefert. Sie haben auch gezeigt, dass man deren Eigenartigkeit kontrollieren kann. Damit haben sie daran mitgewirkt, die Fundamente der sogenannten zweiten Quantenrevolution zu legen. In dieser versuchen Forschende weltweit – auch wir im WSS-finanzierten Projekt CarboQuant – diese Eigenartigkeit zu bändigen, um sie für technische Innovationen wie Quantenverschlüsselung, Quantensensorik und Quantenrechner nutzbar zu machen. Die grundlegenden Experimente der Nobelpreisträger verwendeten vor allem Licht und die Polarisation der Photonen als Quanteninformationsträger. In CarboQuant nutzen wir Elektronen und deren Spin, um Quantenverschränkungen zu erreichen, damit diese sich im quantenmechanischen Sinne «absprechen» können.   

Übrigens: Obwohl sich das Gedankenexperiment, welches Einstein als absurd angesehen hatte, durch die Arbeiten der Nobelpreisträger ebenfalls als richtig erwies, zeigte sich auch, dass die «Absprache» der beiden quantenverschränkten Teilchen nicht dazu benutzt werden kann, Informationen mit Überlichtgeschwindigkeit zu übertragen. Einstein behielt also doch irgendwie Recht – Quantenmechanik und Spezielle Relativitätstheorie sind miteinander verträglich. Doch auch nahezu hundert Jahre nach ihrer Entstehung bleibt die Quantenmechanik rätselhaft. Wir haben es noch nicht geschafft, zu verstehen, was die fundamentale Realität ist, welche sich hinter ihren Formeln verbirgt.  


Die Rekonstruierbarkeit uralter Genome

Der in Leipzig arbeitende schwedische Evolutionsforscher Svante Pääbo hat im Oktober 2022 den Nobelpreis für Medizin für seine Forschung zur Evolution des Menschen und zu dessen ausgestorbenen Verwandten erhalten. Er entdeckte den Denisova-Menschen und sequenzierte als erster das Genom des Neandertalers. Auf seiner Forschung basiert das WSS-Projekt Paläobiotechnologie, das in prähistorischem Zahnstein nach antibiotisch wirkenden Naturstoffen sucht.

Gedanken von Pierre Stallforth und Christina Warinner, Projektleiter des WSS-Projekts Paläobiotechnologie, zum Medizin-Nobelpreis 2022

Vor vierzig Jahren schien die Entschlüsselung des Erbguts sowie der darin kodierten biologischen Funktionen ausgestorbener Organismen äusserst unwahrscheinlich. Diese Art Forschung fand höchstens in Science-Fiction-Romanen statt. Selbst als es später gelang, DNA-Fragmente aus Museumsobjekten zu isolieren, war dies mit riesigem Aufwand und enorm hohen Kosten verbunden. Ein vollständiges altes Genom mit Milliarden und Abermilliarden von DNA-Basenpaaren zu sequenzieren, war unvorstellbar. Noch in den 1990er Jahren, als «Jurassic Park» die Kinobesucher in der ganzen Welt begeisterte, waren nur wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bereit, sich auf ein Forschungsprogramm einzulassen, das so viele Herausforderungen mit sich brachte und dessen Erfolgschancen so gering waren – ganz gleich, wie gross der damit verbundene Nutzen sein würde. Svante Pääbo aber dachte anders. Unbeirrt versammelte er einige der klügsten und kühnsten Köpfe aus den Gebieten der Molekularbiologie, Populationsgenetik und Paläoanthropologie um sich und nahm das ehrgeizigste Projekt in Angriff, das je auf dem Gebiet der evolutionären Anthropologie erdacht wurde.

Svante Pääbos Forschungsteam gelang es nicht nur, das Genom des Neandertalers zu sequenzieren, sondern insbesondere auch, die notwendigen Technologien dafür zu entwickeln. So konnte er eine vollkommen neue, aber ausgestorbene Art der Gattung Homo entdecken, den Denisova-Menschen – und schrieb damit die Menschheitsgeschichte um. Svante Pääbo ruhte sich nicht auf diesen – beispiellosen – Lorbeeren aus; vielmehr begab er sich auf eine grossartige Reise, um die genetischen Unterschiede zwischen Menschen und Neandertalern zu erkunden. Er entdeckte, dass sich Menschen mit Neandertalern mehrfach gekreuzt hatten und dass sich aus den winzigen Fragmenten, die man heute noch in menschlichen Genomen findet, ein nahezu vollständiges Neandertaler-Genom zusammensetzen lässt. Bei der Untersuchung dieser kleinen Neandertaler-DNA-Fragmente in unseren heutigen Genomen entdeckten Pääbo und sein Team, dass eines der Vermächtnisse, die wir von den Neandertalern geerbt haben, eine erhöhte Anfälligkeit für das SARS-CoV2-Virus ist – ein Erbe mit weitreichenden Folgen für die Menschheit in Zeiten der Coronavirus-Pandemie. Pääbos Arbeit zeigte ausserdem, dass die Anpassung einiger menschlicher Populationen an extreme Höhenlagen auf die Denisovaner zurückzuführen ist.

Der Einfluss von Svante Pääbo auf das Gebiet der Paläogenomik ist zugleich tiefgreifend und inspirierend. Die Paläogenomik hat in kurzer Zeit Terrain gewonnen. Neben den ursprünglichen Analysen der alten DNA von Neandertalern oder Menschen umfasst sie nun auch die Erforschung urzeitlicher Tiere, Pflanzen und sogar Mikroorganismen. Dies erlaubte es, das Auftreten und die Ausbreitung von Krankheiten wie der Pest oder der Tuberkulose im Verlauf der Menschheitsgeschichte zurückzuverfolgen. Dabei wurde Zahnstein als hervorragende Quelle für gut erhaltene bakterielle DNA identifiziert. Die schiere Menge an DNA und der exzellente Erhaltungsgrad erleichterten die Sequenzierung der mikrobiellen Genome, welche im oralen Mikrobiom von Individuen gefunden wurden, die vor mehr als 100 000 Jahren lebten. Das von der WSS finanzierte Projekt Paläbiotechnologie macht sich genau diese Tatsache zunutze und geht einen Schritt weiter – über die computerbasierte Analyse alter DNA hinaus. Das Projekt befasst sich mit der Frage, ob alte Funktionen aus dieser DNA rekonstruiert werden können. Zu diesem Zweck identifizieren die Forscherinnen und Forscher des transdisziplinären Teams in alter bakterieller DNA enzymatische Komplexe, die es den Mikroorganismen ermöglichen, Antibiotika zu produzieren. Durch die Synthese dieser Gene und den Einbau in «moderne» bakterielle Wirte kann die sonst verborgene oder sogar verlorene Vielfalt chemischer Strukturen erstmals zugänglich gemacht werden.