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«Zeit und Raum zu haben, ist das Wichtigste»

Die Forschungsprojekte, die die Werner Siemens-Stiftung unterstützt, verfolgen überraschende, innovative Ansätze. Paradebeispiel dafür sind die Molekulararchäologin Christina Warinner und der Biotechnologe Pierre Stallforth aus Jena. Die beiden haben sich zusammengetan, um nach einer Lösung für die zunehmenden Antibiotika-Resistenzen zu suchen. An einem Ort, wo noch nie nach antibiotischen Wirkstoffen gesucht wurde: im Mund von Urzeitmenschen. Ähnlich unkonventionell geht der Materialwissenschaftler Francesco Stellacci an der École polytechnique fédérale de Lausanne das Problem viral übertragener Krankheiten an. Er will sowohl ein Breitbandmedikament als auch spezifische Medikamente gegen unterschiedliche Viren entwickeln. Sein Forschungsansatz überträgt Erkenntnisse aus der Materialwissenschaft auf die Medizin: Ein künstliches Molekül soll Viren «einfangen» und mittels hydrophober Kräfte «zerdrücken». Wie kommt man auf derart innovative Ideen? Ein Gespräch mit der Professorin Christina Warinner und den Professoren Pierre Stallforth und Francesco Stellacci.

In welcher Phase Ihrer Karriere waren Sie am innovativsten?

Christina Warinner: Als Studentin hatte ich am meisten Freiheit. Ich belegte an der University of Kansas alle Kurse, die mich interessierten: mittelägyptische Hieroglyphen, Physik, organische Chemie, Mikrobiologie, Archäologie der Kelten. Das kostete mich ein zusätzliches Jahr, doch nach meinem Doktorat in anthropologischer Archäologie war dieses ureigene Verfolgen meiner Interessen sehr nützlich. So arbeitete ich als Postdoktorandin an der Universität Zürich in einem neugegründeten Institut, wo ich zwei Jahre lang keinen Vorgesetzten in meiner Forschungsgruppe hatte und selbst Ideen entwickeln musste. Ich musste bei den anderen anklopfen und ihre Einschätzung erfragen. Zu Beginn ängstigte mich diese Freiheit ein wenig, doch mit der Zeit merkte ich, dass es eine grosse Chance war. Ich fand an einem Ort DNA- und Protein-Spuren, wo man bis anhin geglaubt hatte, dass dort nichts zu finden sei – im Zahnstein prähistorischer Menschen.

Francesco Stellacci: Auch bei mir war die Postdoc-Phase sehr kreativ und inspirierend. So war es naheliegend, dass eine Professur erstrebenswertwar, da man sich dann ganz dem Forschen würde widmen können. Doch mit der Professur kommen auch viele Pflichten, Personalaufgaben, Projektmanagement, Administration. Das ist kontraproduktiv, denn die Arbeit des Forschens ist ähnlich kreativ wie jene von Künstlerinnen und Künstlern. Aus der Musikbranche weiss man, dass sich Kreativität nicht auf Kommando abrufen lässt – im Stil von: jedes Jahr ein neues Album herausbringen. Doch einen solchen Takt gibt man uns Professorinnen und Professoren vor – mit dem Zwang, regelmässig relevante Forschungsresultate zu publizieren.


Ist eine Professur also nicht die beste Ausgangslage für innovatives Forschen?

Pierre Stallforth: Erst wenn man sich etabliert hat. Dann kann man wegrücken vom Zwang, alles und möglichst häufig zu publizieren. Und: Grosszügige Geldgeber wie die Werner Siemens-Stiftung nehmen einem die Sorge und die zeitraubende Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten. Dann muss man nicht mehr jeden Tag beweisen, dass man das Geld wert ist, das in einen investiert wurde.


Sind junge oder ältere Forschende innovativer?

Stellacci: Es ist erwiesen, dass man im fortgeschrittenen Alter weniger Ideen hat – aber man ist sehr viel besser, Verbindungen herzustellen. Umgekehrt in jungen Jahren: Dann sprudeln die Ideen. Deshalb sollten Nachwuchsforschende stärker in den etablierten Wissenschaftsbetrieb involviert werden, etwa mithilfe von «Paten» oder Mentorinnen. Die Kreativität der Jungen muss in eine fruchtbare Richtung gelenkt werden.

Warinner: Das stimmt. Als ich als Postdoktorandin mit dem neuen Messgerät so unerwartet erfolgreich war, erhielt ich eine Liste bakterieller Arten und musste jeden Bakteriennamen googeln. Ich verfügte plötzlich über eine riesige Menge prähistorischer DNA, wusste aber noch nichts über das orale Mikrobiom; ich kannte nicht einmal das Wort.

Hatten Sie nie Zweifel, dass Ihr innovativer Ansatz sich als Sackgasse entpuppen könnte?

Stellacci: Alle Forschenden zweifeln, das ist normal. Ich startete 2010 mit der Suche nach Antivirotika, es lief gut, ich publizierte dazu, aber immer eigenfinanziert. Fünf Jahre später bekam ich vom Schweizerischen Nationalfonds Unterstützung, doch als die endete, sah es danach aus, als müsste ich das Projekt aufgeben. Dann kam 2020 die Corona-Pandemie, und die WSS sagte mir ihre Unterstützung zu.


Ist eine sichere Finanzierung der Innovation förderlich?

Stallforth: Es gibt eine interessante Beobachtung aus der Theoretischen Physik: In den 1950er-Jahren waren russische Physiker enorm erfolgreich und innovativ – und sie hatten nur Stift und Papier …

Stellacci: … richtig, doch sie mussten auch nur ein, zwei begabte Studierende betreuen und eine einzige Lehrveranstaltung bestreiten. An diesem Beispiel sieht man schön, wie entscheidend es ist, Zeit zu haben, um innovativ zu sein.

Stallforth: Andererseits ist gerade in der Paläobiotechnologie eine gute technische Infrastruktur unabdingbar. Ohne Geräte für das Sequenzieren könnten wir keine raschen Fortschritte erzielen – und die heutige Hochtechnologie ist einfach sehr teuer.

Stellacci: So ist es. Auch die russischen Physiker aus den 1960er-Jahren scheiterten letzten Endes daran, dass zu wenig Geld für die Erforschung ihrer Ideen zur Verfügung stand. Wer innovativ sein will, braucht ein Wissenschaftssystem, das Innovation will, braucht und finanziell unterstützt.


Herr Stallforth, war Ihre innovative Idee eine plötzliche Eingebung oder ist sie die Frucht jahrelanger Arbeit?

Stallforth: Wer heutzutage nach neuen Antibiotika sucht, muss zwangsläufig innovativ sein, denn es steht nur eine beschränkte Anzahl potenzieller «Fundorte» zur Verfügung: Man kann in neuen Organismen oder in neuen Habitaten danach suchen. In den letzten fünfzehn Jahren etwa hat man zwar neue chemische Verbindungen aus Bakterien gefunden, die zum Beispiel in Symbiose mit Insekten leben. Aber meistens stossen wir auf bereits bekannte Substanzen. Das schreit förmlich danach, neue, innovative Wege zu beschreiten.


Ihr innovativer Ansatz entstand also «systembedingt». Doch wie kamen Sie darauf, ausgerechnet in der Urzeit des Menschen nach antibiotischen Wirkstoffen zu suchen?

Stallforth: Als ich Christina Warinner und ihre Forschungsarbeit kennenlernte, 2018 an einem Exzellenzcluster-Treffen in Jena. Wir kamen ins Gespräch und merkten rasch, dass die Kombination unserer beiden Kerngebiete – molekulare Archäologie und Biotechnologie – ganz neue Dimensionen in der Antibiotika-Forschung eröffnet.

Warinner: Genau. Denn in der Frühzeit des Menschen existierten möglicherweise chemische Verbindungen, die es heute nicht mehr gibt – oder doch! Das möchten wir herausfinden. Es ist ein riesiges neues Feld, das viele Überraschungen birgt.

«Der Austausch mit Expertinnen oder Experten aus einem anderen Feld öffnet die Augen für Lücken in der eigenen Argumentation.»

Christina Warinner

Was brachte Sie auf die Idee, dass die urzeitlichen Wirkstoffe «wiederbelebt» werden könnten?

Warinner: Zur Zeit meines Postdoktorats an der Universität Zürich gab es eine Publikation, die behauptete, es lasse sich in Zahnstein keine prähistorische DNA finden. Ich hatte meine Zweifel und überprüfte das. Meine ersten Experimente waren negativ. Doch Messungen mit einem neuen Laborgerät ergaben, dass meine Experimente nicht deshalb gescheitert waren, weil es im Zahnstein keine DNA gibt, sondern weil darin so enorm viel DNA-Bruchstücke konserviert sind, die das alte Gerät überlasteten. Damit hatte niemand gerechnet.


Ihre Hartnäckigkeit zahlte sich aus.

Warinner: Ja. Zahnstein entpuppte sich als einzigartiges Fenster auf das Leben der Menschen vor Zehntausenden von Jahren.

Stallforth: Im oralen Mikrobiom der Frühmenschen haben wir bereits Biosynthese-Gene für potenziell neue Antibiotika und auch Resistenzgene entdeckt. Wir wissen nun, dass unsere Hypothese in die richtige Richtung geht.


Was braucht es noch, um eine innovative Idee auf einen guten Weg zu bringen?

Warinner: Es braucht einen Ort, wo man sich interdisziplinär austauscht, zusammenarbeitet, forscht, lehrt und sich weiterbildet. Die Einrichtung des Forschungsbereichs Paläobiotechnologie am Leibniz-Institut für Naturstoff-Forschung und Infektionsbiologie in Jena bildet einen solchen wunderbaren Rahmen.


Interdisziplinäre Forschung ist aber auch anspruchsvoll.

Stallforth: Das stimmt. Wir investierten gut ein Jahr, damit die Vertreter der beteiligten Disziplinen Anthropologie, Archäologie und analytische Chemie sich gegenseitig ihre Methoden, ihr Denken und ihre Techniken vorstellen konnten und sich besser verstanden. Das hat sich sehr gelohnt.

Francesco Stellacci, was war Ihre Motivation, sich als Materialwissenschaftler der Entwicklung von Medikamenten gegen Viren zu widmen?

Stellacci: An einem gewissen Punkt in meiner Karriere realisierte ich, dass die Wissenschaft zwar viele Erfolge erzielt, wir aber die Augen verschliessen vor grossen wiederkehrenden Problemen wie Krieg, Erdbeben, Dürrekatastrophen oder Pandemien.

«Eine einzelne Person vermag unsere aktuellen Probleme nicht zu lösen.»

Pierre Stallforth

Und weshalb gerade die Idee, Antivirotika zu entwickeln?

Stellacci: An einer Konferenz berichtete ein Referent, dass weltweit jeden Tag tausend Kinder an Durchfall sterben, meist an den Nebenwirkungen einer Virusinfektion. Die Zahl hat sich mittlerweile halbiert, aber sie ist immer noch viel zu hoch, und wir unternehmen nichts dagegen. Das war für mich die Initialzündung, um mich des Problems der Viruserkrankungen anzunehmen.


Es war also eine bewusste Abwendung von den klassischen Fragestellungen der Materialwissenschaften?

Stellacci: Genau. Viren sind ja eigentlich die eleganteste und komplexeste Ansammlung von Material in der Natur, eine Ansammlung von Proteinen, DNA und Fettsäuren. Sie gelten nicht als Lebewesen, da sie auf eine Wirtszelle angewiesen sind, um sich zu vermehren.


Haben Sie sich schon früher für Virologie interessiert?

Stellacci: Ich interessiere mich für vieles, unter anderem auch für die physikalische Virologie. Dort untersucht man, wie man Viren in ihre Bestandteile zerlegt und wieder zusammensetzt, um kleinste Partikel in sie einzuschleusen. Ich dachte mir, wenn wir Viren zusammensetzen können, dann sollte es nicht so schwierig sein, sie zu zerstören. Zerstören ist immer einfacher als zusammensetzen.


Wann stellen Sie solche Überlegungen an?

Stellacci: Meistens, wenn ich allein bin, im Büro oder zuhause. Die Idee mit dem Zerstören von Virenmaterial kam mir in den Sommerferien am Strand in den Sinn. Ich hing meinen Gedanken nach und versuchte mir all die Prozesse vorzustellen, die ein Virus für sein Fortbestehen durchläuft. Irgendwann kam ich zum Schluss, dass es machbar sein sollte, es zu zersetzen. Zurück in meinem Büro, habe ich die Idee auf einem Blatt Papier skizziert und gedacht: Nun brauche ich Fachleute aus der Virologie, die bereit sind, mit mir, einem «Unwissenden», zusammenzuarbeiten.

«Kreativität lässt sich nicht auf Kommando erreichen.»

Francesco Stellacci

Ein Geistesblitz oder eine plötzliche Eingebung können also doch innovative Ideen hervorbringen?

Warinner: Es gibt durchaus Aha-Erlebnisse, die einen weiterbringen. Ich habe sie jedoch meist nach einer Diskussion in der Gruppe. Jede und jeder formuliert seine Überlegungen, die Argumente fliegen hin und her, ohne Resultat. Wenn ich dann später darüber nachdenke, kann es passieren, dass es mir wie Schuppen von den Augen fällt: So muss es sein!


Wer eine innovative Idee hat, muss mit Unsicherheit umgehen können. Er oder sie weiss ja nicht, ob daraus was wird.

Stallforth: Ich liebte die unsichere Anfangsphase während der Etablierung der Paläobiotechnologie. Vermutlich, weil ich mich in meiner Karriere schon immer zwischen den Disziplinen – Chemie, Molekularbiologie, Physik, Mathematik, Mikrobiologie, Genetik – bewegt habe. Ich war nie der grosse Experte in nur einem Gebiet. Mit der Zeit begann ich, es zu mögen und ohne Scheu Fragen zu stellen, wenn ich etwas nicht verstand.

Stellacci: Ein Forscher ist wie ein Stürmer beim Fussball: Manchmal müht er sich 89 Minuten lang ab, ohne Erfolg. Aber wenn er in der letzten Minute das entscheidende Goal schiesst, hat er seinen Job gut gemacht. Fazit: Pack die Gelegenheiten beim Schopf und lass dich nicht von den vielen Niederlagen unterkriegen!


Fassen wir zusammen: Was ist das Wichtigste, um innovativ forschen können?

Stellacci: Die meisten Innovationen entstehen, indem man über den eigenen Gartenzaun schaut und einen frischen neuen Ansatz wagt, an dem man dann feilt und poliert, bis er funktioniert.

Warinner: Um innovative Ideen zu entwickeln, braucht es vor allem Zeit und Raum – um zu denken, etwas auszuprobieren, einer Idee nachzugehen. Mich bringt der Austausch mit Expertinnen oder Experten aus einem anderen Feld am häufigsten auf neue Ideen. Er zwingt mich, über Aspekte nachzudenken, über die ich nie nachgedacht habe, ich erkenne leichter Lücken in meiner Argumentation. Es ist «enthüllend» und fruchtbar.

Stallforth: Eine einzelne Person vermag unsere aktuellen Probleme nicht zu lösen. Innovation entsteht heute durch Interaktion, Zusammenspiel, persönlichen Austausch, durch die ehrliche Einschätzung und das konstruktive Beurteilenlassen einer Idee. Und dann geht es darum, die Machbarkeit zu prüfen – und zu entscheiden, ob sich der grosse Forschungsaufwand wirklich lohnt.