Neues Denkmodell für Klimapolitik

Ökonomen verwenden oft Kosten-Nutzen-Analysen, um zu bestimmen, wie knappe Ressourcen optimal zur Maximierung des gemeinschaftlichen Wohlstands eingesetzt werden sollen. In der Klima- oder Biodiversitätskrise sind die Modelle aber ungenügend. Ein von der Werner Siemens-Stiftung unterstütztes Forschungsteam schlägt eine Erweiterung vor.

Klimaerwärmung, Artensterben, Süsswasserverbrauch, Versauerung der Ozeane: Der Mensch bringt die Erde in vielerlei Hinsicht an ihre Belastungsgrenzen. Die Folgen unseres Tuns sind komplex und schwierig abzuschätzen. Gerade auch, weil Änderungen im Erdsystem nicht immer schrittweise und kontinuierlich erfolgen. Überschreitet ein physikalisches System eine kritische Schwelle, einen sogenannten Kipppunkt, kann dies abrupte, unumkehrbare Veränderungen verursachen.

Ein Beispiel sind die gewaltigen Eisschilde in der Antarktis und in Grönland. Heute ragen sie mehrere Kilometer in die Atmosphäre. In diesen Höhenlagen ist es enorm kalt. Beginnen die Eisschilde mit der Erderwärmung zu schmelzen, gelangt ihre Oberfläche zunehmend in niedrigere und damit wärmere Luftschichten. Das Verhältnis von Schneefall und Schmelze kehrt sich um. Ab einem bestimmten Punkt beschleunigt sich der Tauprozess und ist nicht mehr rückgängig zu machen. Ein anderer Kipppunkt betrifft die Permafrostböden. Tauen sie auf, beginnen sie Methan freizusetzen. Dieses Treibhausgas verstärkt wiederum die Erderwärmung – der Permafrost schmilzt immer schneller.

Langfristige Kosten werden unterschätzt

Was solche Vorgänge bedeuten und welche Schäden sie verursachen könnten, ist enorm schwierig zu berechnen. Um beispielsweise in der Klimapolitik den optimalen Ausstiegspfad aus dem Einsatz fossiler Brennstoffe zu berechnen, verwendet die Wohlfahrtsökonomie sogenannte Kosten-Nutzen-Analysen. Sie stellt dem wirtschaftlichen Nutzen des Brennstoffverbrauchs deren Kosten in Form von Klimaschäden gegenüber. Doch langfristige, enorm schwierig zu berechnende Klimafolgen, wie jene nach der Überschreitung der Kipppunkte, fehlen in solchen Kosten-Nutzen-Analysen praktisch immer. «Das heisst, dass die Kosten unterschätzt werden», sagt Ottmar Edenhofer, Co-Direktor und Chefökonom am Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung PIK in Potsdam bei Berlin und Direktor des Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change (MCC) in Berlin.

Edenhofer ist auch Projektleiter des FutureLabs CERES am PIK, das von der Werner Siemens-Stiftung seit 2022 unterstützt wird. CERES untersucht die politische Ökonomie der globalen Gemeinschaftsgüter. Zentrale Frage des Projektes ist es, wie Staaten zu einer nachhaltigen Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen wie Atmosphäre, Biosphäre oder Ozeane beitragen können. Um dafür die besten Lösungen zu finden, braucht es Kosten-Nutzen-Modelle, welche alle Schäden berücksichtigen.

Kosten-Nutzen, innerhalb der planetaren Grenzen

Ein Forschungsteam um Edenhofer und Johann Rockström, ebenfalls Co-Direktor am PIK, hat deshalb nun eine Erweiterung der Kosten-Nutzen-Analyse entwickelt. Die Studie ist kürzlich im Fachmagazin «Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik» erschienen. Sie geht von den klassischen Modellen aus und integriert in diese das Konzept der planetaren Grenzen, welches im Jahr 2009 von einem Team um Rockström entwickelt wurde. Es handelt sich um neun Dimensionen im Erdsystem, welche die Lebensgrundlage der Menschheit bilden – vom Klima über den Zustand der Wälder und der Ozeane bis zur biologischen Vielfalt. Für jedes dieser Systeme gibt es Belastungsgrenzen. Eine Überschreitung dieser Grenzen, oder entsprechender Kipppunkte, gefährdet die Stabilität der Ökosysteme und damit auch die Zukunft der Menschheit.

Diese planetaren Grenzen wurden bislang entweder ignoriert – oder man betrachtete sie als starre Ziele. Man versuchte, sie möglichst kostengünstig zu erreichen, ohne den ökonomischen Nutzen zu berücksichtigen, der entsteht, wenn man Umweltschäden vermeidet. Das neue Modell integriert die planetaren Grenzen in die bisherigen Kosten-Nutzen-Analysen. Im Beispiel des Verbrauchs von fossilem Brennstoff bedeutet das: Die Einhaltung eines Temperaturziels, bei dem keine Kipppunkte überschritten werden, bleibt die Bedingung. Aber alle bezifferbaren Kosten der Klimaschäden werden in das Modell aufgenommen. Innerhalb dieses Handlungsraums und mit diesen Zahlen wird nach demjenigen Vorgehen gesucht, welches die Wohlfahrt der Gesellschaft maximiert.

Wohlstand sichern mit Klimapolitik

Dieser neue Denkansatz führt nicht nur dazu, dass ökonomische Modelle den Nutzen und die Schäden unseres Tuns realistischer bewerten. «Wir überführen damit das Konzept der planetaren Belastungsgrenzen in eine Struktur, die es ermöglicht, den Umgang mit globalen öffentlichen Gütern zu bewirtschaften und zu regeln», sagt Edenhofer. Das sei das Entscheidende. «Es reicht nicht zu sagen, es gibt planetare Belastungsgrenzen. Man muss diese knappen, öffentlichen Güter optimal bewirtschaften.»

Oft, sagt Edenhofer, werde der Eindruck erweckt, Klimaschutz sei ein Eingriff in den Wohlstand, der Eigentumsrechte begrenze. Aber öffentliche Güter wie Wälder, die Atmosphäre oder sauberes Wasser sind Vermögen. «Diese Naturvermögen müssen bewirtschaftet werden wie Human- und Produktivvermögen. Wenn wir sie permanent entwerten und diese Substanz verzehren, unterminieren wir unseren Wohlstand. Deshalb ist Klimapolitik nichts anderes als Wohlstandssicherung.»

Das neue Modell schaffe einen Rahmen, der das Projekt CERES überspanne, sagt Edenhofer. Nun gehe es einerseits darum, die nötigen naturwissenschaftlichen Daten zusammenzutragen, um mit dem Modell arbeiten zu können. Andererseits müsse dieser Denkansatz auch in die Gremien der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger getragen werden. «Und wir müssen verstehen, welche Gründe Entscheidungsträger daran hindern, in diese Richtung zu gehen», sagt Edenhofer «Das sind unsere nächsten Schritte.»


> Studie in Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik