Portrait von der Werner Siemens-Stiftungsprofessorin Bergita Ganse.
Die Werner Siemens-Stiftungsprofessorin Bergita Ganse koordiniert neu das breit aufgestellte Projekt «Smarte Implantate».

Profi für alle Fälle

Ein Team aus den Bereichen Medizin, Ingenieurwesen und Informatik entwickelt intelligente Implantate, die zum komplikationsfreien Heilen komplizierter Knochenbrüche beitragen sollen. Das breit aufgestellte Projekt «Smarte Implantate» wird neu von der Werner Siemens-
Stiftungsprofessorin Bergita Ganse koordiniert; sie will die unterschiedlichen Fachwelten vereinen – und bringt Wissen aus dem All mit.

In der Erdumlaufbahn geht bekanntlich alles federleicht. Astronautinnen und Astronauten brauchen sich bloss mit dem Finger abzustossen, und schon gleiten sie zum anderen Ende der Raumstation. So himmlisch sich Schwerelosigkeit zunächst vielleicht anfühlen mag, auf die Dauer wird sie zum Problem. «Damit sich Muskeln und Knochen nicht abbauen, müssen wir sie belasten», sagt Bergita Ganse. Die Unfallchirurgin untersuchte viele Jahre lang, wie das am besten gelingt. Ihre Forschung half der europäischen Weltraumorganisation ESA und der US-amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA, die Trainingsmethoden für die Astronautinnen und Astronauten weiterzuentwickeln: zum Beispiel mit speziellen Krafttrainingsgeräten, Laufbändern oder Fahrradergometern.

Sportliche Ziele

Nun hat Bergita Ganse beim Forschen wieder vermehrt Boden unter den Füssen. Seit März 2021 ist sie Werner Siemens-Stiftungsprofessorin an der Universität des Saarlandes in Homburg. Als neue Koordinatorin eines Teams aus Medizin, Ingenieurwesen und Informatik möchte sie mithelfen, die Heilung von Knochenbrüchen mithilfe von intelligenten Implantaten zu revolutionieren. Zukünftige Platten, so die Idee, stabilisieren Knochen nicht nur, sondern erkennen selbstständig Fehlbelastungen und korrigieren sie, oder sie stimulieren die Knochenheilung aktiv. Bis 2025 soll ein erster Prototyp eines solchen smarten Implantats vorliegen. Für Ganse ist das ein ambitioniertes, aber erreichbares Ziel. An sportlichem Ehrgeiz fehlt es ihr auf jeden Fall nicht: Die Hobby-Leichtathletin brachte es im Werfer-Fünfkampf bis zu den Senioren-Europameisterschaften.

Innovation dank Austausch

Fachlich versteht sich Ganse als optimales Bindeglied zwischen den Disziplinen. Zuletzt arbeitete sie mit einem Forschungsstipendium in der Abteilung «Musculoskeletal Science and Sports Medicine» an der Manchester Metropolitan University in England. Zuvor forschte sie in Aachen unter anderem zu Implantaten und habilitierte in experimenteller Unfallchirurgie. Auch den Alltag in der Klinik kennt sie bestens. Ihre Weiterbildung zur Fachärztin für Orthopädie und Unfallchirurgie sowie Fachärztin für Physiologie hat sie an der Charité Berlin, beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Köln und an den Universitätskliniken in Köln und Aachen absolviert. Während ihrer Zeit beim DLR und in Manchester lebte sie zudem quasi «unter Ingenieuren», wie sie erzählt, und auch die Fragestellungen der Informatik sind ihr aus verschiedenen Forschungsprojekten nicht fremd. «Mein Ziel ist es, die unterschiedlichen Welten zu vereinen», sagt Ganse. «Denn Innovationen entstehen oft erst dann, wenn sich Fachleute aus verschiedenen Disziplinen die Bälle zuspielen.»

Material, das sich bewegt

Einen ersten Durchbruch erzielte im Jahr 2021 das Zentrum für Mechatronik und Automatisierungstechnik (ZeMA). Es gelang den Ingenieurinnen und Ingenieuren, einen «Demonstrator» zu bauen, der über eine sogenannte Aktorkomponente verfügt. Dabei handelt es sich um ein Implantat aus Metall und Kunststoff, das sich zusammenziehen und verlängern kann. Möglich machen das Materialien mit einem Formgedächtnis: Die Drähte aus Nitinol verkürzen sich, wenn sie mit elektrischem Strom erwärmt werden, und «entspannen» sich ohne Strom. So kann ein gebrochener Knochen mechanisch stimuliert werden. Für den Bau des Prototyps reichten die Forscher erste Patente ein.

Der Prototyp verfügt nun über aktorische, jedoch noch nicht über ausreichend sensorische oder gar intelligente Eigenschaften. Das spätere Implantat wird die einwirkenden Kräfte auch zielgenau messen und verarbeiten müssen. Das schafft der Prototyp derzeit noch nicht. Eine weitere Herausforderung ist die Energieversorgung. Als Energiequelle eignen sich sowohl implantierbare, komplett autark agierende Lösungen als auch induktive Lademöglichkeiten. Auch die Verträglichkeit des Implantats im Körper muss gewährleistet sein. Durch den Einsatz bekannter implantierbarer Materialen und Verkapselungen ist das eine grundsätzlich lösbare Aufgabe, ist Ganse überzeugt.

Wieviel Belastung ist ideal?

Die Technologie ist bereits recht ausgefeilt. Doch ohne medizinische Forschung sind selbst die intelligentesten Implantate nicht praxistauglich. Damit die smarten Implantate die Knochenheilung dereinst wirklich verbessern können, müssen erst die beiden zentralen Fragen beantwortet werden: Welche Kräfte und Belastungen treten im Knochen beim Gehen und im Alltag auf? Welche Belastungen sind bei menschlichen Knochenbrüchen ideal? Die medizinischen Fachkräfte im Projekt rund um Projektleiter Professor Tim Pohlemann erarbeiten das Grundlagenwissen derzeit mittels Sensoren in Schuhsohlen. Auch bei dieser Suche nach der idealen Belastung kennt sich die neue Werner Siemens-Stiftungsprofessorin Bergita Ganse aus: «Die Fragestellungen sind im Prinzip ähnlich wie in der Forschung zur Raumfahrt.»

Text: Andres Eberhard
Fotos: Oliver Lang