Porträt von Pietro Oldrati.
Pietro Oldrati entwickelt ein System, das Erschöpfungszustände von chronisch Kranken objektiv misst. Smartphone und Fitnessarmband zeichnen dafür Körperdaten auf.

Erschöpfung messbar machen

Der Informatiker Pietro Oldrati erhält ein MedTech-Entrepreneur-Fellowship der Universität Zürich. Er will eine digitale Messplattform für Menschen, die unter Erschöpfungszuständen leiden, zur Marktreife bringen.

Chronische Erkrankungen gehen oft einher mit unterschiedlichen Symptomen. Ein häufiges und oft unterschätztes ist die sogenannte Fatigue – oder deutsch: Erschöpfung oder Müdigkeit. Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose, Krebs, rheumatischen Erkrankungen oder mit Long Covid fühlen sich oft körperlich oder geistig völlig erschöpft und kraftlos. Selbst Schlaf und Ruhe bringen ihnen keine Erholung. Viele haben Mühe, ihren Alltag zu bewältigen. «Sie müssen ihre Aktivitäten einschränken und ihre Arbeitszeit reduzieren – ihr Leben verändert sich völlig», sagt Pietro Oldrati.

Oldrati ist Informatiker und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsspital Zürich. Er beschäftigt sich seit seiner Masterarbeit im Jahr 2018 mit der Entwicklung neuer Methoden, um solche Erschöpfungszustände messbar zu machen – in erster Linie bei Multipler Sklerose (MS). Bis zu 95 Prozent aller MS-Patientinnen und Patienten leiden an Fatigue, viele bezeichnen es als das belastendste Symptom ihrer Krankheit überhaupt.

«Trotzdem», sagt Oldrati, «versteht die Medizin nicht, wie Fatigue entsteht und wie man sie behandeln kann.» Denn Erschöpfungszustände sind schwer zu fassen. Ihre Ausprägung ist von Patientin zu Patient unterschiedlich – und es gibt bisher keine Methoden, um die Schwere der Symptome objektiv zu messen. Normalerweise füllen Betroffene einen Fragebogen aus. «Aber Empfindungen und Erinnerungen sind subjektiv«, sagt Oldrati.
Zudem würden die Befragungen oft nur einmal pro Jahr durchgeführt. «Doch Erschöpfungszustände schwanken, sie sind einmal stärker, einmal schwächer.»

Mit Smartphone und Wearables

Der junge Wissenschaftler ist deshalb überzeugt, dass man Fatigue häufiger und genauer messen muss, um sie zu verstehen – und letztlich Therapien zu finden. Heute, sagt er, bleibe Ärztinnen und Ärzten oft nichts anderes übrig, als Betroffenen zu einer Ernährungsumstellung zu raten oder ihnen Medikamente wie Ritalin zu verschreiben, die eigentlich für dieses Krankheitsbild nicht zugelassen sind.

Gemeinsam mit einem Team von Neurologen und Informatikerinnen am Universitätsspital Zürich plant Pietro Oldrati, eine digitale Plattform zur Erschöpfungsmessung aufzubauen. Ihre Instrumente sind das Smartphone und sogenannte Wearables – elektronische Geräte wie Smartwatches oder Fitnessarmbänder, die am Körper getragen werden und Daten aufzeichnen.

Muster zuordnen – bis zur Ermüdung

Für das Projekt hat Oldrati im Frühjahr 2022 ein MedTechEntrepreneur-Fellowship zugesprochen erhalten. Dieses von der Werner Siemens-Stiftung finanzierte Förderprogramm der Universität Zürich beinhaltet ein Stipendium von 150 000 Schweizer Franken. Zudem werden die Fellows von erfahrenen Coaches auf dem hindernisreichen Weg zur Firmengründung beraten und über Stolpersteine aufgeklärt. Sie erhalten Zugang zum «UZH Incubator Lab» und sind Teil eines Netzwerks aus aktuellen und ehemaligen Geförderten.

Drei Messmethoden haben die Forschenden für ihre Plattform konzipiert: Die erste ist eine App für Patientenbefragungen – diese erlaubt eine häufigere Datenerfassung als die bisherigen Erhebungen in der Arztpraxis. Die zweite Messung sind Tests auf dem Smartphone, um die Ermüdung während einer Aufgabe zu erfassen. Ein Beispiel dafür ist ein fünfminütiger Test, bei dem es gilt, bestimmte Muster möglichst rasch der richtigen Vorlage zuzuordnen. «Weil der Test die Patientinnen und Patienten ermüdet, geht ihre Leistung mit der Zeit zurück», erklärt Oldrati. «Das ist objektiv messbar – und Menschen mit Fatigue zeigen einen stärkeren Leistungsabfall.»

Unregelmässiger Herzschlag

Schliesslich werden Messungen direkt am Körper durchgeführt. Ein Messband am Oberarm dient einerseits als Schrittzähler und zeichnet andererseits die Zeitintervalle zwischen zwei Herzschlägen auf. «Bei Patientinnen und Patienten mit Multipler Sklerose oder anderen Krankheiten ist diese Herzfrequenzvariabilität oft gestört», sagt Oldrati.

Er ist überzeugt, dass die Verknüpfung der drei Messmethoden genaue Einblicke in die Erschöpfungszustände kranker Menschen erlauben wird, ohne dass damit die Patientinnen und Patienten allzu stark beansprucht werden. Damit das System auf dem Markt bestehen kann, muss es allerdings nicht bloss Fatigue verlässlich nachweisen. «Ärzte müssen es auch einfach in den Therapiealltag integrieren können», sagt Oldrati. Falls das gelingt, ist das Potenzial gross – für das geplante Start-up und für dauererschöpfte Menschen.