Wie durchlässig ist ein Riss (im Fachjargon: eine Kluft) im Gestein? Mit der neuesten Eigenentwicklung kann diese zentrale Frage der Geothermie nun exakt beantwortet werden.

Hotspots im Untergrund

Das Erdinnere hält Energie im Überfluss bereit – doch ist es schwierig, sie zu gewinnen. Denn Tiefenbohrungen sind extrem teuer, das Gestein ist oft instabil oder undurchlässig, heisse Flüssigkeiten können unerreichbar tief fliessen, oder ihre Wege sind gänzlich unbekannt. Der Geophysiker Martin O. Saar hat eine innovative Methode entwickelt, wie man die Energie in der Erdkruste gewinnen und gleichzeitig das Klimagas CO2 versenken könnte.

Ein zylinderförmiges, wenige Zentimeter grosses Gesteinsstück, eine Bohrprobe, ist dick in einen robusten, isolierenden Panzer eingepackt. In den Zylinder führen verschiedene dünne Metallröhren. Durch sie können Druck, Hitze oder Flüssigkeiten geleitet werden, die dem Gestein zusetzen, tagelang – als läge es in 10 km Tiefe unter der Erde. Wie die Flüssigkeiten und das Gestein sich dabei verhalten, zeichnet der angeschlossene Rechner minutiös auf. Die Versuchsanordnung nennt sich «reaktive Transport-Presse»; sie ist eine von drei Versuchseinrichtungen im Labor von Werner Siemens-Stiftungsprofessor Martin O. Saar und seiner fast 30-köpfigen Gruppe Geothermal Energy and Geofluids an der ETH Zürich. Das Labor mit dem langen Namen «Geosystem Reactive Transport (GREAT) Visualization Lab» ist nach fünf Jahren Aufbauarbeit nun vollständig eingerichtet. Aus der Forschung im GREAT Visualization Lab resultierten Doktorarbeiten und viele wissenschaftlichen Papers, die Saars Gruppe in den letzten Monaten in diversen Fachjournalen veröffentlichen konnte.

Den Wasserfluss erfassen

Die Erdkruste besteht hauptsächlich aus festem Gestein. Trotzdem dreht sich bei Saars Experimenten zur Tiefengeothermie letztlich alles ums Fliessen. Die Fliesswiderstände im Gestein sind die grösste Herausforderung für die Forschenden. In ihrem Labor simulieren und berechnen sie, was normalerweise tief unter der Erdoberfläche passiert. So formen sie etwa die Strukturen von Bruchstellen im Gestein in transparenten Gebilden aus dem 3-D-Drucker genauestens nach. Durch die Bruchstellen wird Wasser gepresst, das mit Markern versetzt ist, die unter Laserlicht leuchten und so fotografiert werden können. Die drei hochauflösenden Kameras in diesem Teil des Labors können bis zu 2000 Bilder pro Sekunde aufnehmen. Da sie es gleichzeitig tun, ist es möglich, das Geschwindigkeits-Vektorfeld der Flüssigkeit zu erfassen und anschliessend auf dem eigenen Hochleistungscomputer zu berechnen.

Visualisieren in 3-D

Bleiwände schirmen den neuesten Laborteil ab. Dort führt die Saar-Gruppe ihre reaktiven Transport-Experimente durch. Den Röntgenstrahl-Computertomografen nutzt sie, um Gesteinsauflösungen und Mineralausfällungen, wie sie häufig im Untergrund bei der geothermischen Energiegewinnung auftreten, dreidimensional zu visualisieren. Die 3-D-Bilder des Tomografen können ebenfalls vom 3-D-Drucker geformt und anschliessend den Laser-illuminierten Experimenten unterzogen werden. «Dank des GREAT Visualization Lab können wir den reaktiven Transport von Geofluiden im Untergrund detailgenau darstellen. Das ist weltweit einzigartig», betont Martin O. Saar. Die Forschenden entwickeln dazu eigene Computerprogramme zur Modellierung. Und sie sind auch in der Lage, die Computersimulationen zu testen und sie auf die Grösse von realen geologischen Reservoiren hochzurechnen. 

Initialstudie im Aargau

Ein Teil der Forschenden ist aber auch im Feld unterwegs, um Untergründe auszuloten. Bisher hat die Gruppe bereits in Äthiopien, in der Mongolei und aktuell im schweizerischen Aargau buchstäbliche Hotspots entdeckt: Das sind Bereiche in der Erdkruste, wo heisses Wasser relativ nah fliesst, etwa 1 bis 2 km unter der Erdoberfläche. Dort werden die elektrischen Ströme im Untergrund mit der geophysikalischen Methode der Magnetotellurik gemessen. So lässt sich herausfinden, wie gut die Porenräume des Gesteins miteinander verbunden sind, welche Flüssigkeit durch den Untergrund strömt und wo leitfähige Zonen sind. «Die Initialstudie im Aargau ist vielversprechend. Es ist aber nicht leicht, in dicht besiedelten Gebieten die elektromagnetischen Wellen richtig zu deuten», räumt Saar ein. Für die Messungen werden die elektromagnetischen Felder genutzt, die durch Sonnenwinde entstehen oder durch Blitze von heftigen Gewittern am Äquator – sie sind bis in den Aargau messbar. In dicht besiedelten Gebieten stören oft elektrische Leitungen solche Messungen. Doch das Team von Saar hat in Zusammenarbeit mit einer weiteren Forschungsgruppe an der ETH Zürich eine Software entwickelt, die den elektromagnetischen «Lärm» in der Atmosphäre rechnerisch zum Teil eliminieren kann.

CO2 «versenken»

Mit der Erforschung von Grundlagen allein geben sich die Mitarbeitenden von Martin O. Saar nicht zufrieden. Sie wollen auch wissen, wie sich ihre Erkenntnisse sinnvoll unter ökologischen und ökonomischen Gesichtspunkten anwenden lassen. Eine solche Anwendung wird gegenwärtig im grössten Projekt von Martin O. Saar geplant. Dabei wird CO2als besonderes Geofluid durch den Untergrund geleitet, um die Wärme in der Tiefe in einem geschlossenen Kreislauf nach oben zu transportieren. Das Grossprojekt wurde in zehn Jahren Forschungsarbeit vorbereitet, davon die letzten drei Jahre auch zusammen mit dem Siemens-Konzern. Das Projekt könnte schon bald vor dem Realitätstest stehen. «CO2-Emissionen zu reduzieren, ist eine der grössten Hoffnungen der Menschheit angesichts des Klimawandels», sagt Saar. Die Forschenden verhandeln zurzeit mit den Verantwortlichen eines CO2-Speicherprojekts in Kanada, bei dem bereits 350 000 Tonnen CO2 eines Kohlekraftwerks abgeschieden und in 3,2 km Tiefe eingespeichert wurden. Dort liesse sich die von Saar entwickelte CO2-nutzende Technologie erstmals testen. Die Effizienz der geothermischen Stromproduktion könnte sich mit dem Geofluid CO2 – verglichen mit Wasser – verdoppeln, so Saar. Und ökologisch wäre das Ganze auch, weil das CO2permanent im Untergrund bliebe. Martin O. Saar ist überzeugt: «Die Menschheit wird auf solche Technologien in Zukunft angewiesen sein, wenn sie die Erderwärmung stoppen und gleichzeitig Strom erzeugen möchte.»

Text: Sabine Witt
Fotos: Felix Wey