Foto von der Entwicklung künstlicher Muskeln.
Bestandteil eines künstlichen Muskels in Rohform.

Ein Muskel, der am Herzen liegt

Es wäre eine grosse Hilfe für Patientinnen und Patienten mit Herzschwäche: Ein Ring um die Aorta soll helfen, genügend Blut in den Körper zu pumpen. An dieser Weltneuheit forscht das Zentrum für künstliche Muskeln in Neuenburg – finanziert von der Werner Siemens-Stiftung.

Die Luft bleibt weg, man fühlt sich müde und ausgepumpt – und das im wahrsten Sinne des Wortes: Das Herz von Patienten mit Herzschwäche – auch Herzinsuffizienz genannt – vermag nicht mehr genügend Blut in den Körper zu pumpen. Bis zu 200 000 Personen sind in der Schweiz davon betroffen, vor allem Ältere Menschen. Meist ist es eine Erkrankung der Herzkranzgefässe, die den Herzmuskel schwächt. Mehr Muskelkraft für das Herz ist deshalb gefragt. Genau dies ist eines der Ziele der Forschung am neuen «Zentrum für künstliche Muskeln» (CAM) in Neuenburg. Das CAM ist Teil der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) Lausanne und wurde Anfang 2018 gegründet. Finanziert wird es von der Werner Siemens-Stiftung.

Forscher mit Erfahrung

Direktor des Zentrums ist der 53-jährige Mikroingenieur Professor Yves Perriard. Das Thema liegt ihm buchstäblich am Herzen: Vor einigen Jahren musste er sich wegen eines Herzklappenfehlers einer Operation unterziehen. Schon seit seiner Dissertation forscht er an technischen Systemen, die das Herz unterstützen. Dazu zählen so genannte Ventricular Assist Devices (VAD) wie Pumpen, aber auch Kunstherzen. Yves Perriard kennt die gravierenden Nachteile der bisherigen Systeme: Die Pumpen müssen in einer Operation ins Herz eingesetzt werden und kommen mit dem Blut in Kontakt. Das erhöht das Risiko von Infektionen und Thrombosen. Das 10-köpfige Team am Zentrum für künstliche Muskeln in Neuenburg verfolgt einen völlig neuen Ansatz, um Menschen mit Herzschwäche zu helfen. Ihr ambitioniertes Ziel: künstliche Muskeln herstellen, die die Pumpleistung des Herzmuskels unterstützen. Die Mikroingenieure entwickeln derzeit eine elastische Membran, die als Ring mit einem Durchmesser von rund 2,5 Zentimetern um die Aorta gelegt werden kann. Ein elektrischer Impuls wird bewirken, dass sich der Ring zusammenzieht und ausdehnt und so die Aorta unterstützt, Blut durch den Körper zu pumpen. Der grosse Vorteil: Der Eingriff, um den künstlichen Muskel um die Aorta zu legen, ist deutlich schonender als eine eigentliche Herzoperation. Zudem wird der Ring keinen Kontakt mit dem Blut haben.

Das Herz – ein starker Muskel

«Unsere grösste Herausforderung ist es, die nötige Pumpleistung zu erzeugen. Denn das Herz ist ein starker Muskel», sagt CAM-Direktor Yves Perriard. Rund ein Watt muss der Ring leisten können, um täglich mehr als 7000 Liter Blut durch den Körper zu pumpen. Zur Unterstützung platzieren die Forschenden deshalb zusätzlich eine Feder aus Titan um den Ring. Diese wurde eigens für das Projekt in einem Unternehmen in Neuenburg entwickelt und zum Patent angemeldet. Die Feder wird für zusätzliche Spannung sorgen, um den nötigen Druck auf das Blutgefäss zu erzeugen. Eventuell werden auch mehrere Ringe um die Aorta nötig sein, um die angestrebte Pumpleistung zu erreichen. Die Anforderungen an den künstlichen Muskel sind hoch: Der Ring muss stark und sehr elastisch sein und darf im Körper keine Abstossungsreaktion auslösen; er muss also biokompatibel sein. Welches Material weist alle diese Eigenschaften auf? Das Team um Yves Perriard ist bei elektroaktiven Polymeren fündig geworden – einer Form von Kunststoff.

Enorme Leistung gefragt

Um auf das nötige Watt Leistung zu kommen, müssen die Forschenden ein neues, spezifisches Polymer entwickeln. Wie soll es chemisch genau zusammengesetzt sein? Wie dick muss es sein? Um dies herauszufinden, kreiert das Team um Yves Perriard und CAM-Geschäftsführer Yoan Civet derzeit im Reinraum verschiedene Membrane. Diese unterziehen sie anschliessend mehreren Tests. So muss der Ring um die Aorta zum Beispiel eine Stromspannung von mindestens 3000 bis 5000 Volt aushalten. Ja, das sind mehr als die 220 Volt aus unseren Steckdosen. Aber keine Sorge: Der künstliche Muskel wird komplett elektrisch isoliert sein und für die Patienten keine Gefahr darstellen. 

Strom dank magnetischer Induktion

Für die Stromübertragung werden keine Kabel nötig sein. Als Stromquelle dient eine 12- oder 24-Volt-Batterie, die ausserhalb des Körpers platziert wird – beispielsweise am Gürtel. Die nötige höhere Stromspannung wird mittels magnetischer Induktion erzeugt: Eine Spule wird unter Strom gesetzt und erzeugt dadurch ein Magnetfeld; dann wird eine zweite Spule in dieses Feld platziert, wodurch sich der Strom auf die zweite Spule überträgt. Nach diesem Prinzip funktioniert heute bereits das kontaktlose Aufladen der neuesten Generation von Mobiltelefonen. Und so soll auch der Aorta-Ring die nötige Stromversorgung erhalten, wobei die zweite Spule innerhalb des Körpers platziert sein wird. Der Aorta-Ring soll aber nicht nur Blut durch den Körper pumpen, sondern sich auch als Sensor nutzen lassen. Die Vision der Forschenden: Das Polymer wird unter anderem den Blutdruck in der Aorta messen, den Druck auf das Blutgefäss entsprechend anpassen und das Pumpen auch mit dem Herzschlag synchronisieren. 

Präzision aus dem Jura

Ambitionierte Ziele, die zu verfolgen Yves Perriard der richtige Mann ist. Er ist seit 2003 Direktor des Integrated Actuator Laboratory (LAI) innerhalb des Instituts für Mikrotechnologie der ETH Lausanne. Das LAI ist darauf spezialisiert, elektrische Energie in mechanische Bewegung umzuwandeln. Die Forschenden nennen diese Motoren im Kleinstformat «Aktuatoren». In der Vergangenheit hat das LAI nicht nur an Systemen zur Herzunterstützung geforscht, sondern unter anderem auch an Insulinpumpen und chirurgischen Instrumenten. Dass das Zentrum für künstliche Muskeln in Neuenburg angesiedelt ist, ist wohl kein Zufall. «In der Region Jura muss man niemandem erklären, was ein Mikrometer ist», sagt Yves Perriard lachend. Das präzise Arbeiten im Bereich der Tausendstel-Millimeter habe Tradition – in der Uhrenindustrie. Mit derselben Präzision wird heute in den Forschungsinstituten und Unternehmen der Bio- und Nanotechnologie in der Region gearbeitet. Das Herzstück dieser Aktivitäten ist die «Microcity» mitten in der Stadt Neuenburg. Dort arbeiten Forschende und Unternehmen – darunter zahlreiche Start-ups – an Fragestellungen der Mikrotechnologie. Auch das Forschungsteam von Yves Perriard ist dort einquartiert.

Vorfreude in Bern

Vierzig Kilometer von Neuenburg entfernt freut sich eine Person ganz besonders auf die Neuentwicklung aus dem Zentrum für künstliche Muskeln: Thierry Carrel, der renommierte Herzchirurg und Direktor der Klinik für Herz- und Gefässchirurgie am Inselspital Bern. Er wird den Aorta-Ring ab 2022 klinisch testen (siehe Interview Seite 32). Bevor es soweit ist, wird die neue Entwicklung in einem Silikonmodell einer Aorta und im Tierversuch erprobt. Diese Aufgabe übernimmt Dominik Obrist, Professor für Biofluidmechanik und kardiovaskuläre Technik an der Universität Bern. 

Künstlicher Schliessmuskel

Die künstlichen Muskeln aus dem Neuenburger Labor sollen nicht nur müden Herzen helfen. Das Team möchte einen vielfältig nutzbaren künstlichen Muskel entwickeln, der an verschiedenen Stellen im menschlichen Körper eingesetzt werden kann. Das wäre ein grosser Schritt für die Medizin. Denn Prothesen für Knochen und Gelenke gibt es schon lange, künstliche Muskeln noch nicht. Die Werner Siemens-Stiftung unterstützt die Forschung dazu von 2018 bis 2029. In diesem Zeitraum wird das CAM-Team zwei weitere Anwendungen für den künstlichen Muskel entwickeln. Erstens einen künstlichen Schliessmuskel für die Harnblase – dadurch könnten Menschen mit Inkontinenz den Abgang des Urins wieder kontrollieren. 

Die Mimik zurückgeben

Zweitens soll der künstliche Muskel Menschen nach einem Unfall oder einer Brandverletzung die Kaufunktion und Mimik im Gesicht zurückgeben. Der künstliche Muskel wird dabei nicht die Form eines Rings, sondern einer platzsparenden flachen Membran haben. Bei diesem Teilprojekt erwartet die Forschenden eine besondere Herausforderung: Im Gesicht ist es sinnvoll, den künstlichen Muskel mit den Nerven des Patienten zu verbinden – damit die Muskelbewegungen möglichst natürlich wirken. Dazu wird Yves Perriard mit Professorin Nicole Lindenblatt von der Klinik für Plastische Chirurgie und Handchirurgie des Universitätsspitals Zürich zusammenarbeiten. – Man sieht: Für die Entwicklung künstlicher Muskeln ist ein äusserst multidisziplinäres Team von Spezialistinnen und Spezialisten aus der Mikrotechnologie, Materialwissenschaft, Biomedizin und Chirurgie nötig.

Auf dem Weg zur Weltneuheit

Als erste sollen Patientinnen und Patienten mit Herzschwäche von der Innovation aus dem CAM profitieren können. Ein Herzunterstützungssystem, das um die Aorta gelegt wird – es wäre eine Weltneuheit. Mit Yves Perriard und Thierry Carrel hat sich ein eingespieltes Duo der Aufgabe angenommen. Die beiden stehen seit zehn Jahren im fachlichen Austausch. Kennengelernt haben sie sich am Inselspital Bern: Thierry Carrel hatte Yves Perriard erfolgreich am Herzen operiert.

Text: Adrian Ritter
Fotos: Felix Wey
Illustration: bigfish