Unvermeidliche Tests am Tiermodell: Bevor der Aorta-Ring in klinischen Versuchen beim Menschen zum Einsatz gelangen kann, müssen ihn die Forschenden vom Zentrum für künstliche Muskeln an Versuchstieren prüfen.

Im Takt des Schweineherzens

Ein künstlicher Muskel um die Aorta soll dereinst Menschen mit einer Herzschwäche unterstützen. Um dieses Ziel zu erreichen, müssen die Forschenden des Zentrums für künstliche Muskeln in Neuenburg auch Tierversuche durchführen. In Bern testeten sie eine neue Version ihres Aorta-Rings am Schwein.

Die Stimmung in dem kleinen Aufenthaltsraum schwankt zwischen gelassen und angespannt. Ein halbes Dutzend Personen sitzen hier, in einem Untergeschoss des Inselspitals in Bern. Sie trinken Kaffee und diskutieren vor Laptops noch einmal über Formeln, Grafiken und Parameter. Yves Perriard, Yoan Civet und ihre Mitarbeitenden warten auf ihren Einsatz. Sie sind zwar keine Ärzte, sondern Mikrotechnikingenieure – aber sie habe ein Projekt initiiert, das ein Stück Medizingeschichte schreiben könnte.

Unterstützt von der Werner Siemens-Stiftung forscht das Team des Zentrums für künstliche Muskeln (CAM) am Standort Neuenburg der École polytechnique fédérale de Lausanne (EPFL) an einer Weltneuheit: an einem weichen, muskelartigen Ring, der um die Aorta von Patientinnen und Patienten mit einer Herzschwäche gelegt werden und mithelfen soll, genügend Blut durch den Körper zu pumpen. In der Schweiz leiden mehr als 200'000 Menschen an einer Herzschwäche. Mit fortschreitendem Krankheitsverlauf kann sich die Pumpleistung des Herzens derart verschlechtern, dass der Körper nicht mehr mit genügend Blut und Sauerstoff versorgt wird.

Invasive Herzpumpen

«Patientinnen und Patienten mit einer schweren Herzinsuffizienz wird heute eine Herzpumpe eingesetzt», sagt CAM-Direktor Yves Perriard. Herzpumpen sind aber mechanische Geräte aus starren Materialien und sie werden invasiv ins Herz hinein operiert. «Sie belasten die Herzwände, können rote Blutkörperchen zerstören und Blutgerinnsel verursachen», sagt Perriard. Mit einem weichen Kunstmuskel, der nicht mit dem Blut in Kontakt kommt, könnte man diese Probleme umgehen.

Heute wollen die CAM-Ingenieure einen überarbeiteten Prototyp ihres künstlichen Muskels an einem Schweineherzen testen. Der Aufenthaltsraum, in dem sie warten, gehört zur «Experimental Surgery Facility» der Universität Bern. Die hochmoderne Tierversuchseinrichtung verfügt über zwei Operationsräume, die so gut ausgestattet sind wie für Eingriffe am Menschen. Seit drei Stunden ist im Operationsaal ein Ärzteteam um den Herzchirurgen Paul Philipp Heinisch vom Deutschen Herzzentrum München daran, dem Versuchstier den Aorta-Ring zu implantieren.

Weich – und voller Spannung

Der Ring besteht aus sogenannten dielektrischen Elastomer-Aktoren. Dabei handelt es sich um neuartige, enorm elastische Materialien. Sie bestehen aus Schichten eines extrem elastischen Kunststoffs, des Elastomers, sowie aus Elektrodenschichten. Wird an den Elektroden eine Spannung angelegt, bildet sich zwischen ihnen ein elektrisches Feld, wobei entgegensetzte Ladungen sich gemäss dem Coulomb-Gesetz anziehen. Auf diese Weise dehnt sich der Ring aus und zieht sich wieder zusammen – je nach angelegter elektrischer Spannung.

Geschützt wird dieser künstliche Muskel von einer Plastikröhre. «Ohne sie käme es rasch zu Verschmutzungen und allenfalls Funktionsausfällen», sagt Yves Perriard. 2021 implantierte das Team einen solchen künstlichen Muskel erstmals in Schweinen. «Das Prinzip funktionierte, aber die mechanische Energie war noch zu schwach, um das Herz zu unterstützen.» Um die Pumpleistung zu erhöhen, mussten die Forschenden ein neues Implantat bauen, das eine höhere Spannung aushält. Das Ziel sei es, dass der künstliche Muskel rund 20 Prozent der Herzleistung erbringe, sagt Perriard.

Schwierige Synchronisierung

Es kommt Leben in den Aufenthaltsraum. Die Ärzte haben die Operation erfolgreich beendet und übergeben an das Mikrotechnikteam. Zwei fahrbare Tische werden in den Operationssaal gerollt. Auf ihnen stehen Bildschirme und diverse Apparaturen, ausgestattet mit einer ganzen Armada an Kabeln. Einer der Apparate, eine silberne Kiste, ist der Impulsgeber für den Ring. Dank seiner Impulse wird der Aorta-Ring mit einer elektrischen Spannung von bis zu 6500 Volt zuerst ausgedehnt und danach zusammengezogen.

Die Herausforderung für das Technikteam besteht darin, die Bewegungen des künstlichen Muskels mit dem Herzschlag des Versuchstieres abzustimmen. «Wenn nicht beide synchron sind, bringt unser Gerät nichts», sagt Yoan Civet, Geschäftsführer des CAM. Was einfach klingt, ist hochkomplex. Konzentriert sitzen die Forscherinnen und Forscher vor den Bildschirmen und beobachten die Kurven, die sich darauf abzeichnen. Mehrmals starten sie einen Synchronisierungsversuch, müssen aber wieder abbrechen. Das Herz des Schweines beginnt unregelmässig zu schlagen und gerät immer wieder aus dem Takt.

Fünfstündige Mess-Session

Die Medizinerinnen und Mediziner versuchen, das Ihre dazu beizutragen, um das Problem in den Griff zu bekommen. Unter anderem justieren sie die Herz-Lungen-Maschine, an die sie den Kreislauf des Versuchstiers angeschlossen haben. Dann, nach einer guten Stunde des Probierens und Einstellens, ist es geschafft: Der Herzschlag des Schweines ist stabil, die Kurven auf den Bildschirmen sind synchron. Nun beginnen die Messungen: Mithilfe verschieden starker elektrischer Impulse bewegen die Mikrotechnikingenieure den künstlichen Muskel unterschiedlich stark. Gleichzeitig zeichnen Messgeräte den Blutdruck und den Blutfluss im Ring, in der Aorta und in die linke Herzkammer auf.

Das Schwein steht während der gesamten Prozedur unter Vollnarkose und wird am Ende dieses sogenannten Akutexperiments eingeschläfert. Der Tod im Rahmen eines solchen Experiments dürfte für das Tier mit viel weniger Stress verbunden sein als ein Ende im Schlachthof. Trotzdem ist Yves Perriard sich der Verantwortung bewusst. «Um verlässliche Resultate zu bekommen, brauchen wir Versuche an Tieren», sagt er. «Und wenn wir das schon nicht vermeiden können, versuchen wir wenigstens, in jedem Versuch so viele Daten wie möglich zu sammeln.»

Rund fünf Stunden lang testet sein Team den Aorta-Ring an diesem Tag. Yves Perriard und Yoan Civet sind zufrieden. «Wir sehen am Bildschirm bereits, dass unser Gerät den Blutfluss und den Druck verändert», sagt Perriard. «Das ist ein gutes Zeichen.» Um die genauen Resultate zu bekommen, liegen aber umfangreiche Auswertungen vor dem CAM-Team. Erst sie werden zeigen, welche weiteren Schritte folgen müssen – hin zu einer ganz neuen Behandlungsmöglichkeit für Menschen mit einem schwachen Herz.