Chlor-Technologie für Nachhaltigkeit

Eine Erfindung, viele Möglichkeiten: Das WSS100-Finalprojekt ChemSysCon schlägt vor, auf der Basis einer neuen Chlor-Technologie nicht nur die Lagerung und den Transport dieser Chemikalie sicherer zu machen, sondern auch Elektroschrott und Altlasten zu rezyklieren, Biomasse nutzbar zu machen und Batterien zu entwickeln. 

Chlor ist viel mehr als das Desinfektionsmittel fürs Schwimmbad. Als eine der wichtigsten Grundchemikalien steckt das Element in mehr als der Hälfte aller Produkte der chemischen Industrie – zum Beispiel in Kunststoffen, Arzneimitteln und Agrochemikalien. An die 100 Tonnen elementares Chlor (Cl2) werden jährlich erzeugt, meist durch Elektrolyse aus Kochsalz (NaCl) und Wasser (H2O).

Es ist ein äusserst energieaufwändiger Prozess – in Deutschland ist die Produktion von jährlich 5,5 Millionen Tonnen Chlor für ungefähr 2,3 Prozent des gesamten Stromverbrauchs verantwortlich. Zudem ist Chlorgas giftig und die heute übliche Speicherung sowie der Transport bergen trotz zahlreicher Regulierungen grosse Gefahren. Mitte 2022 etwa fiel ein Container mit Chlor beim Verladen auf ein Schiff im Hafen in Jordanien, sodass Chlorgas ausströmte. 13 Menschen starben, 250 wurden verletzt.

Forschende um Sebastian Hasenstab-Riedel von der Freien Universität Berlin haben eine Technik entwickelt, um Chlor gefahrlos zu lagern und zu transportieren. Dabei handelt es sich um eine sogenannte Ionische Flüssigkeit – ein bei Raumtemperatur flüssiges Ammonium-Salz, das grosse Mengen an Chlorgas aufnehmen und bei Bedarf leicht wieder abgeben kann.

«Grüner» Chlor und Wasserstoff

Die viel einfachere Lager- und Transportfähigkeit mithilfe dieser Flüssigkeit biete ganz neue Möglichkeiten für die sehr wichtige Basischemikalie Chlor, sagt Hasenstab-Riedel. Chlor wird sich in Zukunft problemloser mit erneuerbarem Strom herstellen lassen – einerseits in Mitteleuropa, wo die Chemieindustrie beispielsweise überschüssigen Solarstrom zur Produktion verwenden kann und das Chlor dann lagert, bis sie es braucht.

Andererseits im globalen Süden, wo man im grossen Mass mit günstig verfügbarer Solarenergie Chlor produzieren und von dort sicher transportieren könnte. Ein weiterer Vorteil: Bei der Chlorherstellung entstehen als Nebenprodukte Wasserstoff und Natronlauge, ebenfalls wichtige Energieträger und Basischemikalien.

Das ist aber längst nicht alles. «Die Ionische Flüssigkeit ist der Dreh- und Angelpunkt, um eine neue Chlortechnologie aufzubauen», sagt Hasenstab-Riedel. Er hat, gemeinsam mit einem Team der Freien Universität Berlin, der Bundesanstalt für Materialforschung- und Prüfung (BAM) und des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Polymerforschung (IAP), für seinen WSS100-Antrag «ChemSysCon» vier Themenfelder ausgearbeitet, in denen die Chlorspeicherplattform einen gewichtigen Beitrag zu einer nachhaltigen Chemie leisten kann.

Das erste Themenfeld ist das Urban Mining von Hightech-Metallen. In Elektromotoren, Windturbinen oder Handys stecken grosse Mengen an wertvollen Metallen, etwa Seltenerdmetalle. «Bei diesen Rohstoffen ist Europa abhängig von Ländern wie China», sagt Hasenstab-Riedel. «Wir müssen Methoden entwickeln, um sie einfach aus den Produkten herauszulösen und zu rezyklieren.» Die von ihm entwickelte neue Chlor-Technologie könnte dabei äusserst hilfreich sein, weil es sich um eine  sehr reaktive Flüssigkeit handelt. Erste Versuche, erzählt Hasenstab-Riedel, hätten gezeigt, dass sich damit Hightech-Metallverbindungen schon bei niedrigen Temperaturen auflösen und die einzelnen Metalle abscheiden lassen.

Das zweite Themenfeld ist das Aufschliessen von Biomasse. Bei der Herstellung von Biodiesel etwa fallen jedes Jahr vier Millionen Tonnen Glycerin als Nebenprodukt an. Und bei der Papierproduktion entstehen jährlich 100 Millionen Tonnen Lignin als Reststoff. Beide Abfallprodukte, sagt Hasenstab-Riedel, liessen sich mithilfe von Ionischen Flüssigkeiten in wertvolle, funktionale Materialien umwandeln.

Altlasten und Batterien

Das dritte Themenfeld ist die Umwandlung von nicht mehr benötigten Materialien. «Mittels elektrochemischer Verfahren können wir das Chlor aus bestehenden Verbindungen ablösen und wieder in unserer Ionischen Flüssigkeit speichern», sagt Hasenstab-Riedel. Ein Beispiel einer solchen chlorhaltigen Altlast ist das in der EU längst nicht mehr verwendete Insektizid Lindan, von dem europaweit bis zu sieben Tonnen in Abraumhalden liegen. Auch chlorierte Kunststoffe könnten sich für ein Recycling durch solche Dechlorierungen eignen.

Schliesslich ist die Chlor-Plattform ein aussichtsreiches Ausgangsmaterial für stationäre Speicherbatterien, etwa um Solar- oder Windenergie zu speichern. Die Ionische Flüssigkeit kann zwei Elektronen von Metallen wie Kalzium oder Aluminium aufnehmen und leicht wieder abgeben. «Wir haben schon vor Jahren gezeigt, dass solche Batterien aufbauend auf Metallhalogeniden wie Bromiden im grossen Massstab möglich sind», sagt Hasenstab-Riedel. Polychloride bieten aber noch bessere Möglichkeiten und sind deutlich billiger, weil Chlor häufiger ist als Brom.

Chlor könnte also schon bald auf verschiedenste Weise eine Schlüsselrolle spielen auf dem Weg in eine nachhaltigere Zukunft.