Weizen auf 100 Stockwerken

Weizenanbau auf engstem Raum: Das WSS100-Finalprojekt «Revolution der Nahrungsmittelproduktion» schlägt vor, das Prinzip des Vertical Farmings derart konsequent weiterzuentwickeln, dass sich bis zum 6000-fachen Ertrag gegenüber dem Freiland erzielen lässt.

Wie lässt sich die wachsende Weltbevölkerung ernähren, ohne natürliche Ressourcen wie Wasser oder Böden zu übernutzen und Ökosysteme zu zerstören? Das ist die Frage, die ein Forschungsteam um Senthold Asseng von der Technischen Universität München lösen will. Für seinen WSS100-Antrag hat es ein Konzept ausgearbeitet, das eine Nahrungsmittelproduktion in einer umfassend kontrollierten Umgebung vorschlägt – eine radikale Weiterentwicklung des heute bereits praktizierten Vertical Farmings.

«Beim heutigen Vertical Farming fallen enorm hohe Energie- und Arbeitskosten an, wirtschaftlich betreiben lässt es sich deshalb höchstens mit hochwertigem Blattgemüse wie Salat oder Kräutern», sagt Senthold Asseng. Um auch Grundnahrungsmittel wie Weizen zu vertretbaren Kosten Indoor zu produzieren, müsste man das System ganz neu denken, automatisieren und um ein Vielfaches effizienter machen. Mit einem solchen Ansatz, so Assengs Berechnungen, lassen sich auf 100 vertikal gestapelten Anbauflächen und mit fünf bis sechs Ernten pro Jahr bis zu 6000 Mal höhere Weizen-Erträge pro Quadratmeter Grundfläche erreichen als im Freiland.

Zwergweizen mit grossem Korn

Um das zu bewerkstelligen, braucht es Optimierungen auf allen Ebenen – angefangen bei der Pflanze selbst. Weizen liefert der Menschheit ein Fünftel aller Kalorien und ist die am besten untersuchte Nutzpflanze. Bislang wurde er aber auf Freilandverhältnisse gezüchtet, kaum je auf eine hoch kontrollierte Umgebung. «Weil wir in unserem System Temperatur, Licht, Feuchtigkeit, Nährstoffangebot und alle anderen Faktoren kontrollieren, können wir neu überlegen, wie die Pflanze aussehen muss», sagt Asseng.

So soll die Weizenpflanze möglichst kurz bleiben, damit sich in einer Produktionsanlage viele Anbauschichten übereinander stapeln lassen. «Auf dem Feld ist die Höhe des Weizens wichtig, um Unkräuter in Schach zu halten», sagt Senthold Asseng. «Aber in unserer Anlage werden wir keine Unkräuter haben.» Sein Team arbeitet bereits heute mit einer Weizensorte, welche die US-Raumfahrtbehörde NASA in den 1990er-Jahren in Hinblick auf allfällige Marsmissionen züchterisch verändert hatte. Statt ungefähr 1,1 Meter Höhe wie Freilandweizen erreicht sie gerade noch einen halben Meter. «Wir möchten den Weizen aber noch kürzer haben», sagt Asseng.

Ein anderer Ansatzpunkt ist das Wurzelwerk. Freilandweizen hat Wurzeln, die bis zwei Meter in den Boden reichen, um genügend Wasser und Nährstoffe aufzunehmen. Bei einem Indoor-Weizen, der alles bekommt, was er braucht, reichten wohl Wurzeln von zehn Zentimetern oder weniger, sagt Asseng. Die eingesparte Energie könnte die züchterisch optimierte Pflanze ins Korn stecken.

Ebenso wichtig wie die Zucht der geeigneten Sorte ist es, jene Bedingungen zu finden, bei denen die Pflanze unter geringstem Energieaufwand gedeiht. Auch diesbezüglich haben die Forschenden eine ganze Reihe von Ideen. Viele betreffen die Beleuchtung, die beim Vertical Farming fast die gesamten Energiekosten ausmacht. So könnte man den Pflanzen nur jenes Lichtspektrum anbieten, das sie für die Photosynthese benötigen. Ein vollautomatisches Fördersystem wiederum könnte die Lichtquellen auf und ab bewegen, dass sie immer nahe an den Pflanzen bleiben. «Denn die Lichtstärke und damit der Energieverbrauch nimmt quadratisch mit dem Abstand ab», sagt Senthold Asseng. Sein Ziel ist es, den Energiebedarf insgesamt um 93 Prozent zu senken.

In Scheunen und in der Wüste

Ein weiterer Schwerpunkt ist die Zirkularität. Hocheffiziente Kreislaufsysteme sollen dafür sorgen, dass 95 Prozent weniger Wasser und 60 Prozent weniger Düngemittel verbraucht werden. Dazu beitragen könnten zum Beispiel spezielle Wandbeschichtungen zur Entfeuchtung. Oder die Zersetzung von nicht verwendeter Biomasse in Mineralien, die wieder als Dünger eingesetzt werden.

Um keine Energie zu verschwenden und eine automatisierte Produktion zu gewährleisten, ist ein optimiertes Gebäude ein Muss. Das Münchner Team schlägt vor, modulare Farmanlagen aus Holz zu bauen, die auch ökologisch nachhaltig sind. «Die kleinste Einheit wird zehn auf zehn Meter gross und fünf Schichten hoch», sagt Asseng. Solch kleine Einheiten könnten sogar in der Scheune eines Landwirts Platz finden und von einer Solaranlage auf dem Dach mit Energie versorgt werden. Grosse Anlagen mit bis zu 100 übereinander liegenden Anbauflächen wiederum werden eine Massenproduktion von Nahrungsmitteln sogar dort ermöglichen, wo wegen Wassermangel oder Schwermetallen in Böden bisher nicht an eine Landwirtschaft zu denken war.

Gelingt es, Weizen – und vielleicht später weitere Nahrungsmittel – auf kleinster Fläche und in bester Qualität zu produzieren, ist das ein Quantensprung für die weltweite Ernährungssicherheit. Und es senkt den Druck, hochindustrielle Landwirtschaft zu betreiben, was auch der Natur zugutekommt.